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Müll: Ein Problem der indischen Megastadt Chennai

Da mir das Thema Müll in Schwellen- und Entwicklungsländern sehr am Herzen liegt, freue ich mich besonders diesen Gastbeitrag von Simon Dorr zu veröffentlichen, in dem es um den Umgang mit Müll in der indischen Megastadt Chennai geht. Simon leistet im Rahmen des Weltwärtsprogramms ein Jahr lang einen Freiwilligendienst an der Hindu Union Comittee Middle School ab und unterrichtet die Kinder in Englisch.

Seit neuestem bin ich nicht nur Freiwilliger, sondern auch Pendler – gezwungenermaßen.

Also heißt es für mich morgens raus und auf zum Bus.

Die Menschen und der Müll warten darauf, dass sie abgeholt werden. Der Müll wird wohl noch länger warten müssen.
© Simon Dorr

Ich gehe am Straßenrand zur Bushaltestelle, warte auf den 46G, steige ein und bezahle meine 13 Rupien. Mit etwas Glück finde ich einen Sitzplatz und kann das Treiben der indischen Großstadt auf meiner Pendlerstrecke durchs Fenster beobachten. Kurz bevor ich aussteige, wird mein Bus den Fluss überqueren. Vor diesem Streckenabschnitt beginne ich schneller zu atmen. Dann, kurz bevor wir die Brücke erreichen, hole ich nochmal tief Luft und halte den Atem an. Wenn der Bus gut durchkommt, kann ich es dadurch vermeiden, die vom Gestank des Flusses durchsetzte Luft einzuatmen.

Ich springe kurz vor meiner Haltestelle aus dem Bus und laufe in Richtung Schule. Auf dem schmalen Pfad am Straßenrand neben den Motorrädern versuche ich meine Tritte so zu setzen, dass der Schmutz möglichst nur die Sohle meiner Schuhe berührt. Denn in unmittelbarer Nähe der Müllcontainer halten sich meist Kühe und Hunde auf, die sich vom Müll ernähren. Bei Regen wird dann der Abfall der Menschen mit den Exkrementen der Tiere zu einem unangenehmen Brei vermengt und auf die Straße gespült. Nicht weiter schlimm. Es braucht nur eine etwas erhöhte Aufmerksamkeit, um trotzdem sauberen Fußes in der Schule anzukommen.

Das Kalb hat Glück und findet neben dem Müllcontainer etwas altes Gemüse zum Fressen. © Simon Dorr

Müllentsorgung in Chennai

In Deutschland gibt es eine Tonne für Restmüll, eine für Kompost und eine für Papier und Pappe. Dann gibt es Säcke für Plastik und Wertstoffe, Container für weißes, grünes und braunes Glas, kleine Boxen für die Entsorgung von Batterien und Wertstoffhöfe für Bauschutt, Sperrmüll und Elektrogeräte.

In Indien gibt es nur eine Art Müll: Müll. Den aber dafür fast überall. Gleichmäßig verteilt liegen kleine Verpackungen, Papierschnipsel und Pappbecher auf der Straße, so als hätte es gerade eben ein paar Sekunden lang Müll geregnet.

Keinesfalls kapitulieren die Bürger Chennais tatenlos vor dem Straßenmüll. Täglich werden die Straßenabschnitte vor den verschiedenen Läden und Wohnhäusern gefegt und der Müll dadurch zu größeren Ansammlungen an genau den Stellen gehäuft, für die niemand direkt zuständig ist. Das ist die erste Müllsammelstufe: Kleine Haufen an Stromkästen, Ecken von Mauern und Laternen. Es gibt einen speziellen Berufsstand, der diese Haufen mit Schüsseln und Schabern aufsammelt. Ohne Handschuhe oder Schutzmasken wird der Müll von der Straße auf Lastfahrräder befördert. Dabei pusten die Männer kräftig in eine Trillerpfeife, um den Anwohnern zu signalisieren, dass sie ihnen außerdem ihren Haushaltsmüll bringen können. Mehrmals täglich kommt derselbe Mann zu uns in die Straße, sammelt den Müll und pfeift in seine Pfeife.

Auf der einen Seite der Straße scheint die Sonne auf die bunten Hausfassaden. Auf der anderen Seite liegt Plastikmüll
© Simon Dorr

Die nächstgrößere Müllsammelstufe sind Container, die in regelmäßigen Abständen an der Straße stehen. Diese werden von der Müllabfuhr zumindest so oft abgeholt, dass mein Müllbeutel noch immer in den nächsten Container gepasst hat.

Müll Chennai Indien
Müll liegt neben den Sammelcontainern
© Simon Dorr

Obwohl es dieses System gibt, sammelt sich der Müll auf größeren freien Flächen. Dort, wo sich keine Läden befinden, besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass Sperrmüll den Platz für sich beansprucht. Auch und vor allem die Flussufer sind davon betroffen. Und nicht nur deren Ufer, auch an den flacheren Stellen der Flüsse lassen die Plastikteile erahnen, was der Fluss außer Wasser ins Landesinnere transportiert. Was noch darüber hinaus mit einem Fluss passieren muss, damit er so riecht wie der durch Chennai fließende Cooum, liegt jenseits meines Vorstellungsvermögens.

Hier ein Artikel über den Ganges, der zwar 1900 km von Chennai entfernt liegt, dessen Verschmutzung aber genauso real ist.

Beim Betrachten der Müllberge fallen mir schwarze Brandflecken auf. Je weiter ich mich von der Stadt entferne, desto häufiger werden diese. Ihre Herkunft wurde mir zum ersten Mal bewusst, als ich auf einer längeren Busfahrt an einem brennenden Müllhaufen vorbeigefahren bin. Da es nur wenige Verbrennungsanlagen gibt, und es unmöglich ist, allen Müll dorthin zu transportieren, greifen die Menschen zur Selbsthilfe und die Müllverbrennung wird in Eigenregie vor Ort durchgeführt.

Von Greenpeace gibt es auf Englisch einen Artikel über diese selbstständig durchgeführten Müllverbrennungen in Indien. Dieser Artikel beschreibt, was relativ logisch erscheint: Bei einer Müllverbrennung unter freiem Himmel verschmutzen die brennbaren Bestandteile die Luft und die nicht brennbaren den Boden. Ob einfach liegen lassen die bessere Alternative ist, sei jedoch dahingestellt.

So ist die Situation. Ich traue mich zu behaupten, dass ich in dieser Hinsicht einen guten Überblick über Chennai und die nähere ländliche Umgebung bekommen habe.

Die Situation ist schlimm, den–Kinnladen–runter–kippen–lassend schlimm.

Und das ist nicht die Art Problem, über die durch das Fernsehen informiert wird. Nicht die Art Problem auf die erst aufmerksam gemacht werden muss. Der Müll ist allgegenwärtig und er stinkt. Wenn ich Lust dazu hätte, könnte ich von jedem Punkt der Straße sieben, acht Schritte gehen und eine große Handvoll Abfall aufheben. Ich könnte ein paar hundert Meter laufen und mit einem Hechtsprung in einen Müllberg stechen. Der Müll ist Teil meines Alltags und eines jeden anderen. Aber egal wie viel ich darüber nachdenke, von der Ursache habe ich nicht die geringste Vorstellung.

Woran liegt es, dass die Menschen hier nicht Herr über die Abfälle werden? Was müsste getan werden, um die Situation zu verbessern?

Häuser in der Nähe des Strandes erstrahlen in satten, leuchtenden Farben, aber zwischen die Gebäude sollten Menschen besser keinen Blick werfen.
© Simon Dorr

Zahlen- und Faktenvergleich zum Müll in Deutschland und Indien

Als ich nach dem Abfallaufkommen von Deutschland in den letzten Jahren gesucht habe, wurde ich schnell fündig. Das Umweltbundesamt liefert Statistiken zu allen möglichen Arten von Abfällen – aufgeschlüsselt für die letzten Jahre. In Deutschland fallen rund 51,6 Millionen Tonnen Siedlungsabfälle an (Zahlen von 2015).

Ich habe lange recherchiert, um an ähnliche Zahlen für Indien zu gelangen, und die mir am sichersten erscheinende Quelle ist das Manual on Municipal Solid Waste Management 2016 der indischen Behörde Ministry of Urban Development.

Aus dessen Einleitung zitiert:

Even though only 31% of [the] Indian population resides in urban areas, this population of 377 million (Census of India, 2011) generates a gigantic 1,43,449 metric tonnes per day of municipal solid waste, as per the Central Pollution Control Board (CPCB), 2014-15.

Dies ist die einzige Statistik, die auch eine ungefähre Personenzahl zum Müllaufkommen angibt, auch wenn das beim modernen Phänomen der indischen Megastadt mehr ein halbblindes Schätzen als alles andere ist. „Municipal solid waste“ wird als „Siedlungsabfall“ in der Statistik übersetzt. Werden jetzt die Siedlungsabfälle aus Deutschland entsprechend umgerechnet, kommen wir auf 141.369 Tonnen pro Tag für 2015. Das entspricht ungefähr dem angegebenen Verbrauch der indischen Stadtbevölkerung.

Falls diese Zahlen stimmen, verursacht ein Deutscher im Schnitt ungefähr 4,7-mal so viel Haushaltsmüll wie ein in einer Stadt lebender Inder. Das kommt mir realistisch vor. Wer wenig hat, kann auch wenig konsumieren und wenig Müll verursachen.

Der Mensch und sein Müll

Des einen Müll ist des anderen Schatz.

Mit diesem Credo jedes Flohmarkts möchte ich dich vom Ausflug in die Welt der Statistik wieder zurück in die Realität holen.

Des einen Müll ist vielleicht noch nicht jedes anderen Schatz, aber zumindest nicht unbedingt jedes anderen Müll. Jeder hat bei Müll oder Dreck eine andere Schmerzgrenze. Manch einer kann es kaum ertragen, eine leere Pizzaschachtel nicht direkt nach dem Essen wegzuräumen, während in so manchen WGs die gleiche Schachtel schon mal eine Woche auf dem Wohnzimmertisch verbringen kann. Das ist auch der Grund, warum es immer derselbe ist, der den Tisch abräumt oder das Bad putzt. Das ist eben die Person, deren Schmerzgrenze am niedrigsten liegt.

Aber wer sind wir, die Pizzaschachtel-Liegenlasser dieser Welt zu verurteilen? Auf Pizzaschachteln kann man Dinge genauso gut abstellen wie auf dem Tisch. Welches Argument macht das Wegräumen jetzt besser als das Wegräumen in einer Woche? Was genau macht den Müll objektiv schlecht?

Wo Müll ist, sind Moskitos und dort werden Krankheiten übertragen. Wenn Indien sich durch einen einzigen Willensakt aufräumen ließe, dann würde sich die Argumentation einfacher darstellen als die am heimischen Wohnzimmertisch. Aber ich möchte auch ein weniger handfestes Argument anbringen: Der Straßenmüll, die kleinen Haufen, die offenen Container, die großen Haufen, der Gestank. Es ist die Definition der Hässlichkeit. Der Müll verunstaltet das Stadtbild und ist ständiges Mahnmal für die Probleme des Landes. Wenn er einfach toleriert wird, ist das für mich eine Art Teilabschied von der Idee eines schönen Lebens. Und da könnte man doch vielleicht eine Parallele zur unaufgeräumten Pizzaschachtel im Wohnzimmer sehen.

Deshalb möchte ich abschließend den Blick noch einmal weg vom Müll richten. Weg vom Müll und dahin, worum es letztendlich geht. Hin zu den Menschen. Meinem Urteil nach ist die Toleranz, die dem Müll entgegengebracht wird, mindestens genauso schlimm wie der Müll selbst. Der Müll ist normal. Die Verschmutzung ist Norm. Müll liegt überall herum, es stinkt in der Umgebung von Müllcontainern und in der des Flusses. Das ist so. Das wird nicht hinterfragt

© Simon Dorr

Auf dem Bild ist eine große Müllansammlung vor den Mauern meiner Schule zu sehen, neben deren Eingang sich Haushalts- und Sperrmüll türmt. Rechts von diesem Bild ist der Eingang. Noch weiter rechts sieht es zum Glück nicht so schlimm aus.

© Simon Dorr

Nach der Englischstunde drückt mir eine Schülerin eine kleine Packung Kekse in die Hand, eine weitere Packung behält sie für sich. Ich sehe die gleichen Kekse auch bei allen anderen Kindern der Klasse. Anscheinend wurden sie von jemandem für alle mitgebracht. Ich freue mich.

Ich esse auf, weiß erstmal nicht wohin mit der Verpackung und halte sie in der geschlossenen Faust meiner linken Hand. Ich blicke ein wenig durch den Raum und sehe etwas über den Boden des Klassenzimmers gleiten.

Es sind einige Hochglanz-Keksverpackungen.

Titelbild @ Simon Dorr

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